Hintergründe

Ein Selfie und schon wieder weg

Ein kleines Dorf umrahmt vom smaragdgrünen Brienzersee. Doch seit zwei Jahren ist alles anders. Iseltwald wird überschwemmt von koreanischen Touristen, die nur ein Ziel haben: Ein Selfie auf dem alten Bootssteg zu schiessen. Grund für den Ansturm ist eine Netflix-Serie.

Sandra Gonseth

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Zwei Touristinnen aus Taiwan machen ein Selfie.
Bitte lächeln: Zwei Touristinnen aus Taiwan halten ihren kurzen Besuch am Schiffsteg von Iseltwald für die Ewigkeit und die Zuhausegebliebenen fest. © Yves Bachmann

Noch die letzten paar Kurven auf der schmalen Uferstrasse und das Postauto erreicht den Dorfeingang von Iseltwald. Dieser befindet sich etwas oberhalb der 420-Seelen-Gemeinde. Aus der Vogelperspektive sieht das Dorf aus wie eine Zunge, die sich genüsslich in den smaragdgrünen See schlängelt. Chalets, ein paar Hotels, eine Schiffsanlegestelle. Gerade blinzelt die Sonne aus dem wolkenverhangenen Himmel. «Wow, wow, wow», sagen die zwei jungen Asiatinnen immer wieder. Sie sitzen in der ersten Reihe des Poschi, das sich nun Richtung Dorfkern den Berg hinunterkämpft. Der Bus ist proppenvoll. Das scheint sie aber nicht zu stören. Sie haben beide nur ein Ziel: Ein Selfie auf dem Bootssteg von Iseltwald zu schiessen. Dort werden sie sich bald in eine lange Schlange einreihen und geduldig auf ihren Moment warten.

Postauto voller Touristen.
Die Postautos sind voll, die Schlangen am berühmten Schiffsteg lang: Iseltwald wird von Touristinnen und Touristen überrannt, seit die Seegemeinde als Filmkulisse diente. Die Einheimischen nehmen den Boom hingegen eher als Belastung wahr – viel profitieren vom Ansturm konnten sie bislang nicht. © Yves Bachmann

Auf dem Dorfplatz beginnt der Jonglierakt

Wie soll man mit dem Touristenanstrum umgehen? Dies fragen sich nicht nur die Dorfbewohner. Auch der Gemeinderat des einzigen Dorfs am linken Brienzerseeufer, «Bönigen, Iseltwald Tourismus», die BLS-Schifffahrt und PostAuto müssen sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Denn der Boom, ausgelöst durch die koreanische Netflix-Serie «Crash Landing on YouTarget not accessible» nimmt Dimensionen an, die logistisch fast nicht mehr zu bewältigen sind. Jeden Tag fahren unzählige Reisecars auf den beschaulichen Dorfplatz, wo das Wendemanöver zwischen Dorfladen und öffentlichen Toiletten einem Jonglierakt gleicht. «Um die einheimischen Fahrgäste und die Touristen aus dem südostasiatischen Raum an ihren Zielort zu bringen, haben wir unsere Kurse verdoppelt», erklärt Ruedi Simmler, Verantwortlicher für die Postautos im Berner Oberland. Alle 30 Minuten fährt ein Bus von Interlaken nach Iseltwald, die Zusatzkurse nehmen den Weg über die Autobahn. «Damit gewinnen wir Zeit», so Simmler. Er und seine Teams seien überrascht worden vom Ansturm, der nach der Pandemie Fahrt aufgenommen hatte und sogar über die Wintermonate aufgeflammt ist. «An Ostern wurden wir dann völlig überrannt.»

Ortschild von Iseltwald
© Yves Bachmann

Ein Sehnsuchtsort

Doch worum geht es in dieser Serie überhaupt? «Es ist eine Liebesgeschichte zwischen einem Paar aus Nord-und Südkorea, das sich auf diesem Steg das erste Mal trifft», sagt Ruedi Simmler, der sich alle 16 Folgen der Serie angeschaut und auch schon beide Staaten bereist hat. «Obwohl man die Serie unter Schnulze verbuchen könnte, steckt auch eine starke politische Aussage dahinter», betont er. «Sie beschreibt den Wunsch der koreanischen Bevölkerung nach einer Wiedervereinigung beider Länder.» Dass die Serie aber einen solchen Hype im kleinen Dorf im Berner Oberland auslösen würde, hat niemand vorausgesehen. Am allerwenigsten Marianna Brunner. «Dass ich so etwas mit meinen 85 Jahren noch erlebe», sagt die rüstige Rentnerin, die gerade vor ihrem Haus den Kiesplatz mit dem Rechen ebnet. Sie schüttelt den Kopf. Ihr Grundstück ist eines, das am nächsten beim Steg liegt. «Tagein, tagaus kommen die Leute in Scharen, fotografieren Haus und Garten und wollen sogar meine Toilette benutzen.» Dabei habe eigentlich alles ziemlich harmlos begonnen. 2019 bei den Dreharbeiten ist die Filmcrew zu Marianna Brunner gekommen und hat nach Strom gefragt. «Auch das Klavier für die Schlüsselszene durften sie in unseren Vorgarten stellen», erinnert sich die Iseltwalderin. Sie blickt auf den alten holzigen Steg, der so gar nichts Mondänes an sich hat. «Den gibt es schon ewig.» Am Anfang habe sie noch den Abfall aufgelesen, doch mittlerweile probiere sie, sich vom Geschehen vor ihrer Haustüre zu distanzieren.

Ein Paar in Hochzeitskleidung auf dem Steg.
© Yves Bachmann

Jetzt kostet das Selfie etwas

Mit ganz anderen Herausforderungen sind die Postauto-Fahrer konfrontiert. Sie bringen die Passagiere sicher über die alte und enge Seestrasse von Interlaken nach Iseltwald. Kreuzen ist an vielen Stellen unmöglich. So kommt es schon mal vor, dass ein asiatischer Selfiejäger mit seinem Mietauto stecken bleibt und das Postauto den Part des Rückwärtsfahrens übernehmen muss. Die Folge davon sind Verspätungen in Interlaken. «Es ist ein Zustand, den man nicht länger haben möchte», sagt Fahrer Guido Francioli, der nach einem kurzen Halt in Iseltwald die Schar der Rückreisewilligen wieder einlädt und über die Autobahn Richtung Interlaken verschwindet.

Sein Kollege Marco De Almeida, ein gebürtiger Portugiese, nimmt es mit Humor. «Es gibt positiven und negativen Stress», erklärt er. «Ich sehe es positiv.» Gerade steigt in Bönigen eine Einheimische in den übervollen Bus ein. «Nehmen Sie Platz auf dem Sonnendeck, dort gibt es sogar noch Kaffee.» Die Sprüche von Marco sind in solchen Momenten Gold wert und vertrösten so manch einen Passagier, bis es Lösungen gibt, die alle mehr oder weniger zufriedenstellen werden. Der Anfang wurde bereits gemacht: Ab sofort muss, wer auf den Steg will, fünf Franken bezahlen. Auch bei den öffentlichen Toiletten wurde ein Bezahl-Drehkreuz montiert. Ein Ampelsystem für die Postautos und eine Zufahrtsbeschränkung inkl. Gebühren für Reisecars sollen die Verkehrssituation im Dorf verbessern. Seit dem 1. Juni können sich die 2000 Serienfans pro Tag sogar auf zwei Etagen an ihren Sehnsuchtsort chauffieren lassen. PostAuto setzt auf zehn zusätzlichen Expresslinien Doppelstock-Busse ein – ein Novum im Berner Oberland. Ob alle diese Massnahmen den Boom bremsen können? Ein Filmteam aus Thailand hat bereits Interesse an einem neuen Filmprojekt angemeldet.

verfasst von

Sandra Gonseth

Redaktorin

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